Montag, 20. Januar 2014

Hessische Straße

Mein Zahnarzt hat seine Praxis im dritten Stock eines alten Hauses in einer alten Straße in Mitte. Es gab eine Zeit, da lag sie am Rand meiner Stadt. Sitzt man im Behandlungsstuhl, blickt man durch alte Doppelfenster, die alter Kitt im Rahmen hält, in die Krone eines alten Baumes. Es ist November und der Baum schon kahl. Die Sonne scheint schon um drei Uhr nur noch beinah. Der Baum ist schwarz vor grauem Himmel. Über dem Zahnarztstuhl hängt die künstliche Sonne von der Decke mit Stuck aus einer anderen Zeit. Sie scheint auf Kronen. Manchmal aus Gold. Und auf Gedanken, denen man nicht entkommen kann, weil der Kopf sie als Erinnerung festhält. In den alten Fensterrahmen hält der alte Kitt alte Scheiben. Früher, als die Erinnerungen noch Pläne waren und Träume, gab es solche Scheiben oft. Die hatten Fehler, Schlieren, waren uneben, nicht ganz plan. Pockig wie das Land. In der linken Scheibe bricht eine Blase das Licht wie eine kleine Glaskugel. Bewegt man den Kopf, fängt die Welt dahinter an zu schwimmen. Planlos. Die Welt hinter Glas. Am Rand. In meiner Schule sahen wir durch solche Fenster in das Land. Im Unterricht, der langweilig war, konnten wir fliehen, es genügte ein Nicken, ein Blinzeln, ein Augenblick. Die Kunst liegt im Wechsel der Perspektive. Der Makel muss zum Zentrum der Betrachtung werden, bis er unsichtbar wird: Beweg den Kopf, langsam, bis der Hintergrund gnädig wird. Eine Gabel im Geäst, nur blau wie im Musikraum ganz oben oder strauchgrün wie im Werkenkeller, in dem wir bei Herrn Sasse Kakteenständer basteln mussten oder Schlüsselanhänger. Aus rotem Kunstleder. Mit Liebe. Die Kopfbewegungen verraten mich. Na, wo sind wir denn gerade? Weg.

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