Donnerstag, 27. November 2014

Lassen

... und da sie sehr gut schwimmen kann, müsste sie Steine in die Taschen ihres Mantels stecken. Talent verkompliziert vieles. Können kann sich hinderlich auf die Lebensplanung auswirken, denkt sie. Nein, das wird sie erst später sagen, wenn man sie befragt. 
Das Spreeufer ist kieselfrei. Der Stein ist betoniert, gequadert, parallel formatiert. Die Wellen oszillieren um die Rillen zwischen den Platten. Unter der Brücke. In ihrem Kopf. In ihrem Leben. In Bildern. 
Baumwollbeutel. Baumwollbeutel, denkt sie. 
Drei Stufen, Klinke, Guten Tag. Bilder und Texte wie Nichts geht über ein wenig wohlbedachten Leichtsinn
Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas Bestimmtes? 
Ich, oh, ja, ähm, nein. Ich möchte mich beschweren. 
Oh. 
Es gibt keine Steine. 
Wie bitte? 
Es gibt keine Steine hier. Ich kann mir doch gar keine Steine in die Taschen stecken. Das geht doch gar nicht. Das ist doch eine ganz unrealistische Anleitung zum Leben, nein, eben nicht. 
Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Möchten Sie ein Glas Wasser? 
Nein, ich kann zu gut schwimmen, ich hab das ja schon als Kind gekonnt. Mit Abzeichen. Das verlernt man doch nicht mehr. Das ist doch völlig unnütz, das ganze Biographische da, oder? 
Das ist eine äußerst ansprechend gestaltete Reihe. Wird sehr gerne verschenkt. Soll es denn ein Geschenk werden? Nein, Virginia Woolf, das tut mir leid. Aber vielleicht Simone de Beauvoir? Könnte ich bestellen. In gleicher Ausstattung. Auch neunzehn neunzig.
Ich war noch nie in Rio, auch noch nie in Basel. 
Reiseführer wiegen weniger als Literatenleben. Aber es gibt schöne Bilder. Auch hier. 
Man kann Bücher in Baumwollbeutel stecken. Das sieht sehr modisch aus. Vielleicht taugen sie ja doch. Links und rechts. Die Henkel sind lang genug. Es gibt ja keine Kiesel hier. Und wenn man sie eingeschweißt lässt, nehmen sie vielleicht gar keinen Schaden. 
Sie können ja nichts dafür ...

Samstag, 1. November 2014

Später

Müde dreht er den Schlüssel herum. "Ich bin's", ruft Herr D., zieht die Schuhe aus, versieht sie mit Spannern, hängt sein Jackett an die Garderobe und füllt die Leere, die tagsüber dort herrscht. "Ja", sagt er und: "Wie immer", "Hab ich unterwegs" und "Nee, nur müde, ich komm gleich, Marie", und sitzt noch auf ein Bier allein in der Küche, im Dunkeln, schaut in das Dunkel der Küche, dreht die Flasche und das Bier zum Strudel, den er im Dunkeln der Küche nicht sieht. "Erprobung offenporiger Asphalt km 212 - 206" stand auf dem Schild, fällt ihm ein. "Offenporig", flüstert Herr D. Er hört seine Stimme und denkt bei dem Wort an ein Herz, das tropft wie eine Plastiktüte mit nadelgestochenen Löchern, in der etwas wie Traurigkeit oder Glück gefroren war, fest, etwas, das vielleicht in dem milden Herbstlicht und der letzten Wärme eines späten Sommertags taut und nach außen tritt. Versuchsweise. Zur Probe. Herr D. steht langsam auf, stellt die Flasche leer in den Kasten. Alles hat seinen Platz, auch Herr D. "Schlaf gut", küsst er Marie auf die Stirn, die er liebt, schon lange und immer, und merkt, dass sie längst schläft. Es ist spät. Herr D. löscht das Licht und den Fernseher und hört auf das Rauschen, draußen vor dem Fenster: Herbst bald. Man sieht es noch nicht, merkt nur, dass die Einfahrt gefegt werden müsste. Herr D. denkt, so fängt es wohl an. Und man merkt es nicht. Nur später wird man sich daran erinnern und suchen und denken, da hat es wohl angefangen. Der Wind trägt die Geräusche der Kleinstadt am offenen Fenster vorbei: Autobahn, Anschluss und Glockenturmschlagen. Erprobung, Versuch, Strecke, Kaninchen. "Mein Hase", so nennt er Marie. Er hört ihren Atem, sie schläft, und er ist ganz allein, ganz allein in der Nacht, und die Zeit gehört ihm. Und er sieht aus dem Fenster ins Dunkel der Krone der Spätsommerlinde. Er küsst Marie. Bald ist Herbst. Dann wird er die Sterne sehen können durch das kahle Geäst. Herr D. lächelt: kahl, klar und schön.