Dienstag, 27. Mai 2014

Fenster zum Hof

Ganz nass bin ich noch vom Regen. Ich tropfe auf die Stelle, auf der ich stehe. Wenn ich nicht gehe, hinterlasse ich eine Pfütze. Wie ein Welpe. Ich bräuchte ein Handtuch. Ja. Ich stehe nur in der Küche und schaue durch ihr Fenster, nass wie ich bin, in den kahlen Hof. Manchmal brennt Licht gegenüber. Nicht oft. Manchmal stehe ich am Fenster und gieße den trockenen Efeu, der in einer Ampel am Messingknauf des Oberlichts hängt. Nein, nicht Knauf, Knebel heißt das wohl. Oder Wirbel? Gülden geschwungen auf Holz, das unter der abblätternden verblichenen Farbe, die einmal Weiß gewesen sein muss, dunkel und grau zum Vorschein kommt. Voller Risse und doppelt sind meine Fenster. Dazwischen ist Niemandsland. Auf halbem Weg nach draußen, in die Freiheit, liegen tote Fliegen und sind gestorben einen kleinen tragischen Tod, den niemand beweint: die Freiheit so nah wie die weißen Hochhäuser früher, wenn die S-Bahn raste, Plänterwald, Baumschulenweg. Nur nicht zu langsam, denn die Türen ließen sich öffnen, Messingtürgriffe gab's. Kraft brauchte es. Und Mut auf freier Strecke, wo nur Gärten links und rechts die Freiheit. Weiße Häuser, wohin man nie kommt. Wusste ich damals, weil sie es sagten, weil ich ein Kind war und das Leben noch lang. Eine Kurve macht die Bahn und legt sich schief wie ich manchmal den Kopf, wenn ich den treuen Efeu betrachte, der sein Leben gibt am Fenster zum Hof, weil der Topf viel zu klein ist, zu klein und beschränkt, weil er doch Luft braucht und Wasser. Zum Leben eben das, was fehlt. Auch jetzt. Manchmal. Ja. Ich bin nass und öffne das Fenster drei Stockwerke tief und grau überall. Und die Blätter sind gelb und der Topf viel zu klein. Und wenn ich gieße, dann tropft es, weil die Erde ausgelaugt, tot ist. Der Efeu am Oberlicht. Drüben brennt Licht. Ich lächle und denke, auch er ist allein. Will nicht, dass er's nicht ist. Einen Efeu sollte er haben, am Oberlicht, gießen und hersehn zu mir, von dort drüben. Und der Rotwein in meiner Hand macht mich vielleicht mutig. "À la vôtre", sollte ich rufen. Und er: "Du bist ja ganz nass ..."

Mittwoch, 21. Mai 2014

Versuchsanordnung

Mit vollen Händen zum Fenster hinein wirft der Sommertag die Schatten seiner Sonne an die Wand von Raum 311. Ein schiefes Fensterkreuz auf leuchtendem Weiß blendender Laune derer, die das Lachen lieben. Davor, in der Schwebe, tanzen Flocken, kreidestaubtrocken, Magnesiumoxid. Chemie, organisch, gefällt, Reaktion. Exotherm wie ihr Lächeln, wenn sie lächelt. Manchmal sieht sie ihn an. Die Ordnungszahlen 3 und 11 klingen wie ihr Name. Nur für ihn. Er fragt sie, ob sie mit auf die Wiese kommt, zwei Stockwerke tiefer, wenn Französisch ist, aber die Sonne doch scheint und der Tag ist wie Wiesenschaum und Buschwind, Kraut und Rosen. Sie schüttelt den Kopf. Leicht silbern ist ihr Blick, alkalimetallisch ihr Nein.

Montag, 19. Mai 2014

Durchschnittlich

Draußen im Garten steht ein Strauch mit goldgelben Blüten. 20 oder 30 Jahre alt soll er werden. Vor 20 Jahren war ich das auch. Nicht viel für einen Strauch, der auch ein Baum sein könnte, denke ich. Doch die Freunde, die ihn zum Einzug schenkten, meinten, er sei anspruchslos. Ein Geschenk ohne Ansprüche mit mittlerer Haltbarkeitsdauer. Nett. Hummeln mögen ihn. Ich mag Hummeln. Praktisch. Im Wind machen seine Zweige Geräusche. Die klingen wie Regen vor Fenstern. Solide. Draußen. Davor. Goldblondes Rauschen. Goldrausch. Goldregen. Bei Sonne, wenn der Garten und mein Zimmer ganz windstill sind, dann lehne ich mich hinaus (denn hier drinnen sitzt immer ein Wie: wie die Erinnerung an Pfeifenrauch, der sich nicht vertreiben lässt, wie Gedanken an Filme von früher, die einfach nur kommen und da sind, man den Titel nicht mehr kennt, nur noch weiß, dass Nanna, Karen, Lasse und Jørn einen Schatz finden, im finsteren Wald, und mit dem Räuber Katz und Maus spielen, in Dänemark war das, wo die Kinder blond sind, ein Lied summen, mit Haaren wie Licht, weil Sommer ist) und zähle die Zeit, die noch bleiben soll, wenn ich ihn so lasse und einfach nur schau: Wenn es warm ist, dann knackt er - peng-peng-hotzenplotz - und verschießt seine Samen. Körnchenförmige Verbreitungseinheiten. Publikumswirksam und meterweit bei Trockenheit. Als Windstreuer. Für Windhühner Windeier. Und ein Körnchen Wahrheit. Im Sommer, bei hohen Temperaturen. Da steigt die Gefahr kalkschalenfreier Eier. Bei Hühnern. Wenn sie alt werden. Wenn man sie lässt. Der Durchschnitt ist 20. Da geht aber noch viel mehr. Sowas weiß ich. Und das mit Nanna, Karen, Lasse und Jørn. Aber das ist egal und so lange her ...


Mittwoch, 14. Mai 2014

Keiner weiß mehr

Die Sonne scheint als Fettfleck auf Butterbrotpapier. Träge. Ich müsste einkaufen. Butter, Brot, Papier. Ich müsste arbeiten. Ich habe Hunger. Der Kühlschrank ist leer. Ich füttere nur noch Vögel. Ganzjahresfutter. Ambrosiageprüft. Kost, Logis, Unterhalt. Draußen vor dem Fenster. Ich schaue ihnen zu. Ich nenne sie Rolf Dieter und Gustl und Else. Ich warte. Auf Dämmerung, gestreutes Restlicht. Fleckenfreiheit. Spatzenaktivität während der zivilen Dämmerung (neununddreißig Minuten in Deutschland, im Durchschnitt, da ist Lesen im Freien noch möglich, ganz bürgerlich). Sie pfeifen auf die Statistik. Unterhaltung auch zur Mittagszeit. Mittag-Leffler-Funktion. Für Zufallsbewegungen. Diffusionsprozesse. Bewusstseinsströme in Spatzenhirnen. Fragezeichen. Deal ist Deal. Gekürte Pflicht. Protestantische Ethik. Zurück an die Arbeit. Zerstreut.

Donnerstag, 8. Mai 2014

Erstmainelkenvergangen

Ich stelle einen Stuhl auf die Straße. Der Himmel ist blau. Die Sonne scheint. Sommersprossenwetter. Das Leben passiert. Aus einem Schornstein, der hoch ist, lang, so lang wie die Zeit bis zum Großwerden, wenn man Kind ist, steigt Wasserdampf. Die einzige Wolke heute. Manchmal dreht der Wind, dann werfen die Wolkenfetzen Schatten. Die ziehen vorüber und knipsen das Licht auf dem Bürgersteig, auf dem mein Stuhl steht, an und aus. An und aus. Erinnerung. Ich sitze da. Das Leben passiert. Ich winke ihm zu. Ein Maireflex. Wie früher mit Nelken Tribünen mit alten Männern mit Hut, weil wir zusammen das Klassenbewusstsein der 8b demonstrieren, Treffpunkt um 8, Vinetastraße, noch Fragen? 
Ihr steht zusammen, der Rest der 8b ist weit weg, versprengt, weil die U-Bahn immer voll ist am 1. Mai. Zwischen Schönhauser und Dimitroff sagt er: "Riech mal die Nelke." Du riechst die Nelke und fühlst dich dumm, weil du nur diese Nelke riechst oder so tust, weil du gar nichts sagen kannst, weil ihr doch hier zusammensteht, ganz allein in der vollen U-Bahn und du so tust, als ob du die Nelke, weil er doch zu dir gesagt hat, du sollst mal die Nelke ... Der Himmel ist blau, und die Sonne scheint durch die Fenster, und du bist die mit den Sommersprossen, die aus der vorletzten Reihe, wo die sitzen dürfen, die vernünftig sind. Wenn man vernünftig ist, hat man seine Ruhe, dann muss man zwar in den Gruppenrat, aber Schriftführer ist ok, da muss man nur das, was die anderen sagen, mitschreiben. Mitlaufen muss man. Wenn er etwas sagt, schreibst du "Thomas sagte:". Du weißt, dass ihn das ärgert. Er will Tom genannt werden, weil das wie Westen klingt. Alle sagen Tom zu ihm, du schreibst "Thomas sagte:", weil alle ihn toll finden, weil er groß ist und dunkel, so wie der aus La Boum, und du wünschst dir manchmal, dass nur du es wüsstest, dass seine Wimpern ganz lang sind und schwarz. Dann stellst du dir vor, dass er dich ansieht und du ihm dann sagst, dass du weißt, dass seine Wimpern ganz lang sind und schwarz. Und dann würde er lächeln und sagen: "So wie deine". Er würde plötzlich merken, dass deine Augen grün sind, mit kleinen braunen Sprengseln, die man hinter der Brille gar nicht sieht, nur wenn man ganz nah herankommt, was aber niemand tut. Auch er nicht. Darum schreibst du "Thomas sagte:". Du siehst ihm zu, wie er marschiert, mit der Nelke in der Hand. Im Klassenverband. Wie im Märchen, bei Grimm, wo ein Pudel die glühenden Kohlen fressen muss und die Schöne so schön ist, dass kein Maler sie schöner hätte malen können, wo steht, was dir einfällt, wenn du ihn siehst: "'Ich will heim in mein Vaterland; willst du mit mir gehen, so will ich dich ernähren.' - 'Ach', antwortete sie, 'der Weg ist so weit, und was soll ich in einem fremden Land machen, wo ich unbekannt bin.' Weil es also ihr Wille nicht recht war und sie doch voneinander nicht lassen wollten, wünschte er sie zu einer schönen Nelke und steckte sie zu sich."

Es wird kühl, ich gehe hinein. Ich bin jetzt groß, und das Leben passiert eben. Ja. So wie damals. Ich verwende jetzt Sonnencreme. Aber auf meinem Küchentisch duften Maiglöckchen. Keine Nelken mehr. 

Sonntag, 4. Mai 2014

Lichte Höhe

Ganz oben auf der Brücke, dort, wo es zu allen Seiten nurmehr bergab geht, steht ein Damenrad. Es lehnt sich ans Geländer. Vielleicht kam sie gestern und blieb einfach stehen. Ganz oben, dort, wo es zu allen Seiten nurmehr bergab geht. Vielleicht kam sie, weil sie wollte, dass etwas passiert, etwas Großes, weil ihr Leben so klein war bis dahin und ihr Herz viel zu groß, weil niemand darin war, für den es schlug bis zum Hals, weil jeder Tag war wie Fensterputzen, so sinnlos, wenn morgen der Regen und immer die Vögel ... Und sie glaubt, dass der Ausblick nicht lohnt. Und auch wenn sie singen, ist alles immer Stille, weil doch nie jemand fragt, nie jemand fragt. Dann stand sie da und schaute vielleicht, und die Sonne färbt sich rot wie ein Riesenrad, das steht, weil Abend ist, abendrot. Und sie sieht hinab in die Tiefe, das Wasser, das unter ihr fließt und dunkel vergeht wie die Zeit. Vielleicht kam dann jemand und bat sie um Feuer, nicht weil er raucht, sondern weil er sagen wollte, dass es schön ist, wenn man sieht, wie die Sonne den Himmel erröten lässt, riesenradrund vor dem Grau. Er sagt, er komme gerne hierher, weil man hier ganz allein ist und sieht, wie die Zeit fließt und verrinnt unten, dort, wo es tief ist, wenn man oben, ganz oben am Scheitelpunkt steht. Und vielleicht fragt er sie, ob sie das Gefühl kennt, am Morgen zu erwachen, bevor es hell ist, und man aufsteht und weiß, das Bett ist ganz leer, wenn man geht. Und dann geht er hinaus in den Morgen, auf die Brücke und sieht, wie ganz hinten der Tag ganz langsam, ganz langsam beginnt. Und er schaut in die Ferne, die näher kommt wie die Sonne, und er geht wieder heim, weil er muss, denn man muss doch zur Arbeit und sich anziehen, rasieren, weil man ordentlich ist, weil man muss. Und man weiß, dass am Abend, wenn man heimkommt, die Wohnung so leer ist wie das Bett und der Tisch, wenn man aufsteht am Morgen und geht. Sie sieht in die Ferne, und schweigend beginnen die Wolken, zum Abend zu werden, zum stehenden Riesenradrot. Sie lehnt ihr Rad ans Geländer der Brücke. Sie nimmt seine Hand. In die Ruhe nach der Stille, in der niemand gefragt hat, sagt sie einfach, ganz einfach: Komm.