Donnerstag, 8. Mai 2014

Erstmainelkenvergangen

Ich stelle einen Stuhl auf die Straße. Der Himmel ist blau. Die Sonne scheint. Sommersprossenwetter. Das Leben passiert. Aus einem Schornstein, der hoch ist, lang, so lang wie die Zeit bis zum Großwerden, wenn man Kind ist, steigt Wasserdampf. Die einzige Wolke heute. Manchmal dreht der Wind, dann werfen die Wolkenfetzen Schatten. Die ziehen vorüber und knipsen das Licht auf dem Bürgersteig, auf dem mein Stuhl steht, an und aus. An und aus. Erinnerung. Ich sitze da. Das Leben passiert. Ich winke ihm zu. Ein Maireflex. Wie früher mit Nelken Tribünen mit alten Männern mit Hut, weil wir zusammen das Klassenbewusstsein der 8b demonstrieren, Treffpunkt um 8, Vinetastraße, noch Fragen? 
Ihr steht zusammen, der Rest der 8b ist weit weg, versprengt, weil die U-Bahn immer voll ist am 1. Mai. Zwischen Schönhauser und Dimitroff sagt er: "Riech mal die Nelke." Du riechst die Nelke und fühlst dich dumm, weil du nur diese Nelke riechst oder so tust, weil du gar nichts sagen kannst, weil ihr doch hier zusammensteht, ganz allein in der vollen U-Bahn und du so tust, als ob du die Nelke, weil er doch zu dir gesagt hat, du sollst mal die Nelke ... Der Himmel ist blau, und die Sonne scheint durch die Fenster, und du bist die mit den Sommersprossen, die aus der vorletzten Reihe, wo die sitzen dürfen, die vernünftig sind. Wenn man vernünftig ist, hat man seine Ruhe, dann muss man zwar in den Gruppenrat, aber Schriftführer ist ok, da muss man nur das, was die anderen sagen, mitschreiben. Mitlaufen muss man. Wenn er etwas sagt, schreibst du "Thomas sagte:". Du weißt, dass ihn das ärgert. Er will Tom genannt werden, weil das wie Westen klingt. Alle sagen Tom zu ihm, du schreibst "Thomas sagte:", weil alle ihn toll finden, weil er groß ist und dunkel, so wie der aus La Boum, und du wünschst dir manchmal, dass nur du es wüsstest, dass seine Wimpern ganz lang sind und schwarz. Dann stellst du dir vor, dass er dich ansieht und du ihm dann sagst, dass du weißt, dass seine Wimpern ganz lang sind und schwarz. Und dann würde er lächeln und sagen: "So wie deine". Er würde plötzlich merken, dass deine Augen grün sind, mit kleinen braunen Sprengseln, die man hinter der Brille gar nicht sieht, nur wenn man ganz nah herankommt, was aber niemand tut. Auch er nicht. Darum schreibst du "Thomas sagte:". Du siehst ihm zu, wie er marschiert, mit der Nelke in der Hand. Im Klassenverband. Wie im Märchen, bei Grimm, wo ein Pudel die glühenden Kohlen fressen muss und die Schöne so schön ist, dass kein Maler sie schöner hätte malen können, wo steht, was dir einfällt, wenn du ihn siehst: "'Ich will heim in mein Vaterland; willst du mit mir gehen, so will ich dich ernähren.' - 'Ach', antwortete sie, 'der Weg ist so weit, und was soll ich in einem fremden Land machen, wo ich unbekannt bin.' Weil es also ihr Wille nicht recht war und sie doch voneinander nicht lassen wollten, wünschte er sie zu einer schönen Nelke und steckte sie zu sich."

Es wird kühl, ich gehe hinein. Ich bin jetzt groß, und das Leben passiert eben. Ja. So wie damals. Ich verwende jetzt Sonnencreme. Aber auf meinem Küchentisch duften Maiglöckchen. Keine Nelken mehr. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.