Sonntag, 29. Juni 2014

Solo

Herr Baryschnikow wohnt im zweiten Stock. Er hat einen kleinen dicken Hund, Susi. Herr Baryschnikow trägt blaue Latzhosen. Herr Baryschnikow trägt immer blaue Latzhosen. Herr Baryschnikow putzt Fenster. Das weiß ich, weil er einmal zu mir gesagt hat, na so wird das nichts, als ich mich mit dem großen Badfenster mühte. Das ist mal nachträglich eingebaut worden, es passt nicht hinein so recht, denn das Bad ist klein, und wenn ich das Fenster öffne, kann ich mich kaum bewegen. Es geht zum Hof, zur Treppe, die außen zur Haustür führt. Alle Leute müssen daran vorbei. Auch Herr Baryschnikow in seinen blauen Hosen. Dann sagt er, na so wird das aber nichts, und ich frage ihn, wieso nicht, und er sagt, so machen Sie nur Streifen, wenn das trocknet und die Sonne drauf scheint, haben Sie keine Freude daran. Ich ziehe ja nachher die Gardinen zu, sage ich. Muss ja sein, weil doch das Fenster direkt zum Hof geht und alle Leute daran vorbei gehen, die Treppe hoch zur Haustür. Unter dem Fenster ist eine Heizung, die sich nicht ausstellen lässt. Das habe ich erst nach dem Einzug bemerkt, im Herbst. Die Wärme steigt auf und lässt die Gardine tanzen. So, als wäre jemand dahinter, der auf die Treppe schaut, um zu sehen, ob jemand kommt. Ich erschrecke nur noch selten, weil ich doch weiß, dass niemand da ist, wenn ich es nicht bin, aber manchmal eben doch hoffe, es warte jemand, wenn ich komme, den langen Schlüssel am Bund in sein Schloss stecke, an der Tür, das nur für ihn gemacht ist, dass passt, beide vereint, Schlüssel und Schloss, für zwei Umdrehungen Glück, auf mich. Die Gardine stammt vom Vormieter. Ist ja nur vorübergehend. Was Neues lohnt nicht. Einmal war die Post falsch sortiert. Seitdem weiß ich, dass der Mann mit dem dicken Hund Michael heißt. Michael Baryschnikow trägt blaue Latzhosen und den Namen eines berühmten Tänzers in den zweiten Stock. Seine Fenster sind immer geputzt. Er liebt seinen Hund und ist allein. Vielleicht stirbt der schöne Name mit ihm aus. Ich packe wieder Kisten. Herr Baryschnikow sagt, er lerne jetzt Standard. Videokurs aus der Bibliothek. Weil ich doch mal gesagt habe, das mit dem Namen und so und er fragen wollte, ob ich vielleicht. Aber jetzt zieh ich ja weg. Ich sage Auf Wiedersehen und weiß, dass ich lüge. Herr Baryschnikow hat Susi. Herr Baryschnikow hat geweint.

Dienstag, 24. Juni 2014

Heim


Auf einmal. Dicke Tropfen. Schwer und plötzlich fallen sie. Wenn sie die Pfützen treffen, die sie tiefer machen, immer tiefer, bis zum See, ganz uferlose Straße nun, spritzt das Wasser hoch vom Kopfsteinpflaster zu den Knien unterwegs. Die Häuserwände werden dunkel, schicksalsergeben und schön wie Sandstrand und Kleckerburg ganz vorn bei den Wellen, nur Gießkanne und Eimerchen, Sandstein eben, war damals Mode, schon wieder ein Früher, aber Sommer ist ja auch jedes Jahr, langsam, stetig, unaufhaltsam jetzt und vergänglich bis zur heiteren Wolkenleere nachher, dann, wenn alles vorbei ist und wieder hell wird, die Steine ihren Glanz verlieren und die Besorgten wie Schnecken aus ihren Verstecken kriechen, in denen sie erwachsen und schirmlos gezwungen verharrten (die Schuhe, der Anzug, die Frisur), noch zweifelnd zum Himmel blicken in die Fünfminutenspätersonne und ich die Tür aufschließen werde, um vier, begossen, getrauft, aber pünktlich - la politesse des rois - am Ziel. "Huch, na nun aber schnell, raus aus den Sachen, du holst dir ja den Tod, Kind. Na komm erst mal rein, Käffchen ist fertig. Also wirklich, so ein Schietwetter, meinst du nicht auch?" Die Handtücher riechen nach Lux-Seife und haben komische Muster, weil das Gelb und das Rot darin langsam verblasst: Kindheit, nunaberabmarschinsbett- und gutenachtkusskariert. Ganz klein ist sie jetzt. "Ach", sage ich, lächle, "eigentlich nicht."

Mittwoch, 18. Juni 2014

Frische Luft

Hamse nich jesehn, die hat die Haare jetzt janz kurz, ja, janz kurz. Doch, richtich kurz. Da steckt bestimmt 'n Kerl dahinter. Doch, na Klärchen, also hörnse mal, ick meine, warum solltese denn sonst? Und so freundlich wie die imma is. Die hat bestimmt wat am Loofen. Doch. Meinse nich ooch, die hatten Neuen? Hamse die nicht jesehn? Janz kurze Haare hat die jetze, wo die doch früha imma mit diese Locken. Richtich hübsch sah die imma aus. Man sagt doch imma, det mit die Haare, wenne Frau die abschneiden tut, det dann wat sein muss. Bestimmt 'n Kerl. Naja, wennse meint. Nee, reden tut die nicht. Imma nett Juten Tach und Juten Abend und Uff Wiedasehn, jaja, det schon. Aber sonst, nee, man weeß ja nich. Nüscht weeßte doch heutzutage. Und nachher hat wieda keener wat jewusst. 

Ich schließe die Tür hinter mir und warte, bis ihre Schritte im Treppenhaus verhallt sind, weil die Dielen im Flur so laut knarren, dass man es draußen weiß. Nichts passiert. Nur Stille. Etwas muss doch passieren! Ein Spatz fliegt gegen die Scheibe des Badezimmers. Ein Geräusch wie ein Vollgummiball in einer Pfütze auf Beton, wenn der Regen längst weg ist und das Wasser nur ein Rest. Benommen setzt er sich auf das Fensterbrett. Zwei Stockwerke, zwischen Himmel und Erde. Nirgends so ganz. Aber auf halbem Wege dahin. In der Mitte, gemäßigter Aufwand. Vernünftig. Bedacht. So wenig Unsinn im Kopf. Ich sehe ihm zu, wie er sich sammelt. Ich würde ihn ja auf ein Glas Wasser hineinbitten und fragen, besorgt, ob alles wieder in Ordnung, vielleicht eine Aspirin gegen Spatzenkopfschmerz oder so. Ich setze mich auf den Beckenrand und warte. Kühles Email. Und gebogener Rand. Füße. Von unten grau und rau. Und an der einen Stelle links, da musst du aufpassen, Kind, da darf man nicht mit Feinstrumpfhosen. Das gibt Tränen. Die haben ja mal ein Vermögen. Lange her. Alt. Nicht oh-sieh-doch-nur-ein-original-alt, sondern ach-noch-nicht-gemacht-alt. Übriggeblieben. Lange her. Plusquamperfekt. Hinter der Scheibe wie hinter Glas: Der Spatz sitzt da. Fragt er sich, ob bei mir alles in Ordnung ist? Ich rede mit Spatzen? Vielleicht würde er mir zu frischer Luft raten. Die soll ja Wunder wirken. Spazieren. Park. Bank. Oder so. Aber Pärchen. Jetzt fliegt er fort. Dabei wollte ich ihn noch fragen, was er von kurzen Haaren hält. Ich strecke meinem Spiegelbild die Zunge heraus und kann sie schon hören, wie sie fragen wird: "Wie denn, Sie jetze ooch?", und dann lache ich und sage: "Auf Wiedersehen", immer freundlich, immer nett, und gehe an ihr vorbei. Alles in bester Ordnung. Bestimmt.

Mittwoch, 11. Juni 2014

Modelleisenbahn

Im Glas der Scheibe spiegeln sich ihre Schritte. 1, 2, 3, 4 zählt sie. Mit jedem Rechts, mit jedem Links wippt ihr Zopf. Weiter. Weiter. 1, 2, 3 und 4. Sie geht. Nichts ist wie bisher. Ihr Leben plötzlich Theorie. Wie die S-Bahn nach Erkner. S3 vertraut ab Ostkreuz. Doch Erkner unbekannt wie Swakopmund, Spitzbergen, Swasiland. Nie dagewesen. Theorie. Wie Glück oder Freiheit. Es gibt sie. Sagt man. Wie die Anzeige ERKNER auf dem Triebwagen der Bahn, auf der Anzeigetafel, wenn sie die 8 Minuten zählt, die noch bleiben bis zum nächsten EINSTEIGEN, BITTE, die man wartet, die vergehen und niemand weiß, wohin, wie das Leben, auf das man zurückblickt und sich wundert, wie die Zeit vergeht, ach Gott, ach Gott. Sagt man dann. Zurückbleiben, und der Zug wird ganz klein in der Ferne, er fährt, mit Erkner als Ziel, in die Ferne, wo Erkner liegt wie ein Punkt am Satzende. Punkt. 
Sie beschließt, morgen das Aussteigen zu vergessen.

Mittwoch, 4. Juni 2014

Norden

Am Meer möchte ich sein. In einem Haus hinter den Dünen. Und bläst der Wind, hört man mit ihm die See. Und der Sand in den Haaren ist salzig und macht dich ganz blond und lachen und ist überall, in der Luft, in den Taschen, im Traum. Nach Westen sehen, wo die Sonne ganz halb wird über dem Wasser, sich spiegelt, Schlaf gut sagt und einfach, für sich, ganz allein untergeht, versinken ein bisschen mit ihr und abends Geschichten erlauschen, die zwischen den Wellen spielen, die du mir leise erzählst, ganz leise, damit ich das Rauschen in der Muschel noch hören kann, wenn du mich zudeckst und es Nacht wird und die Sterne kommen, weil kein Licht ist, nicht finster, nur Nacht: Am Meer, hinter den Dünen, steht ein Haus. Ein Pfad fädelt sich durch den Ginster, der am Morgen golden leuchten wird wie der Tag mit der Sonne, die lacht, über sich. Und uns, sagst du. Doch jetzt ist es Nacht, fast schon Morgen, bis der Wecker klingelt in einer Stadt, die ozeanfrei ist, gekämmt und gefangen, in Ordnung, alles, bestimmt, lächle ich. Tapfer. Straßenbahnquietschen. Kaum Möwengekreisch.

Sonntag, 1. Juni 2014

Mangelware

Blauer Himmel. Blau wie ein Wochenendwunder, wenn man vor den Kindern aufwacht und wach ist, wenn alles noch Ruhe ist drinnen im Haus. Draußen vor dem Fenster spielen Kinder in der stillen Straße. Glocken rufen sonntags zur Pflicht. Das tun sie jetzt wieder. Nicht meine, nicht mich. Noch einmal umdrehen, zum Fenster, mal sehen: Der Wind pustet kleine Wolken vor sich her. Zum Spaß. Kaiserwetter nannte es Großmutter früher. Das hat meine Mutter gesagt. Bei uns hieß das dann: Betten abziehen und Wäsche gemacht und dann ab damit auf den Balkon, wo Leinen gespannt waren, bis man gar nichts mehr sah außer Weiß oder Streublümchen und lauter stoffbezogenen Knöpfen. Und oben hielten Wäscheklammern die wehende Freiheit. Nach Südwesten ging's raus. Da gab es viel Wetter. Da ging alles ganz schnell. Und abends waren die Laken manchmal ganz steif, von zu viel Sonne. Und im Bett roch es dann nach dem Tag, nach dem Wind und der Freiheit, die von Wäscheklammern gehalten, angeleint wehte, von Pankow, nach Südwesten, vom zweiten Stock. Alle Großmütter von damals sind tot jetzt, schon lange. Meine Wäsche riecht nicht mehr nach Kindheit und Sonntag, denke ich mit der Decke über dem Kopf, wenn ich die Augen schließe und wieder klein bin, sonntags und wach. Ein Flugzeug zieht Kondensstreifen. Aeroplan ist ein Wort für Gedichte von früher, über Zukunft und Aufbruch, wie jung sein und frei - großes Pionierehrenwort. Das Geräusch fällt mir ein, wie es klingt, mit einem Lappen an den Leinen entlang, hin und zurück und wieder von vorn. Damit's nicht gleich wieder schmutzig - die Luft ist doch nicht sauber, Kind - wird. Komisch, was dann alles wieder da ist, was alles so bleibt.