Es
klingelt. Der Nachbarsjunge hat wieder seinen Schlüssel vergessen. Dann sagt
er: "Habt ihr mal einen Schlüssel von uns?", obwohl Julia allein in
der Tür steht, ihm wie immer aus dem Sicherungskasten den Schlüssel hervorkramt, von dem sie weiß, dass er ihn nach 10 Minuten wieder in ihren
Briefkasten schieben wird. Wie immer. Sie fragt nicht, und er sagt nichts.
Funktionale Beziehung. Manchmal stellt sie sich vor, wie es wäre, das Geräusch im Briefkasten käme nicht von dem Nachbarsjungenschlüssel.
Heute ist so ein Tag. Sie putzt, weil morgen die Putzfrau kommt, die nicht
denken soll, sie hätte nicht alles unter Kontrolle oder das Leben würde ihr
entgleiten. 42 ist sie, 42 und ein halbes Jahr. Neulich hat sie gelesen, 85 könnte sie werden,
statistisch betrachtet, als Frau, in Deutschland, Julia. Niemand kommt vorbei
und gratuliert zum Bergfest. Nur der vergessliche Nachbarsjunge klingelt. Alles
wie immer. Julia sitzt am Küchentisch und wartet auf das Briefkastengeräusch. Versuchsweise.
Vielleicht behält er den Schlüssel ja länger, weil seine Schwester kommt oder
seine Mutter und er vergisst, herüberzukommen und den Schüssel durch den
Briefschlitz zu schicken. Dann stellt sie sich vor, die Borsten, die hart und laut hinter der Klappe als Zugluftschutz auf Nahrung, Gedankenfutter, warten, hielten vielleicht einen Brief auf vor dem Fall ins Leere, in dem steht,
sie sei schön und er denke an sie. Klug will sie nicht sein, sie will, dass jemand ihr sagt, sie sei schön und jung und er träume von ihr und wage nun diese Zeilen. Und hoffe. Sie sitzt am Tisch und
sieht die Krümelberge, die sie noch zusammenfegen muss, weil doch morgen die
Putzfrau kommt und alles in Ordnung ist. Sie will nicht klug sein und wissen,
dass nur der vergessene Schlüssel zwischen Luftschutzborsten Schwingungsvorgänge erzeugt, eine zeitliche Schwankung der Zustandsgrößen eines Systems, die als hässliches Geräusch den Weg
durch den Flur nehmen werden, schallgewellt, bis zu dem Küchenstuhl, auf dem sie
sitzt und die Krümel betrachtet am Tag vor der Putzfrau und die Fliege, die den Weg durch das Fenster
nicht findet, die fliegenschön ist, flügelflink, eintagsalt und unklug, bis er schließlich in den
Kasten fällt. Sie will nicht wissen, was sie weiß, dass
man Schwankung als Abweichung von einem Mittelwert definiert, als Differenz zum
Erwartungswert und sie dabei an ihr Leben denkt, in dem sie sitzt: Julia am Küchentisch. Sie will nicht hören, was
alle wissen. Sie teilt den Namen mit einem Geräusch, das Hydrophone 1999, am Märzersten, im Stillen des Pazifik registriert und aufgenommen haben: Julia. Einmalig. Nicht viele wissen davon. Sie weiß, dass es eine derartige Lautstärke erreichte, dass es
von allen Sensoren des Arrays im gesamten Pazifischen Ozean wahrgenommen wurde. Julia
weiß, dass das Geräusch im Briefkasten der Schlüssel von gegenüber ist, aber
sie will schreien, so laut wie am 1. März 1999, dass alle es hören, dass alles
schwingt und alles Geräusch wird. Und wahr. Julia steht auf und kehrt und wird den Schlüssel sorgsam zurück in den Sicherungskasten legen. Wie immer.
Donnerstag, 21. August 2014
Samstag, 16. August 2014
Korrespondenzprinzip
Alles, das mit allem zusammenhängt, es zusammenhält, soll, muss, sonst wäre ja alles Leere, trotz Materie und Zeit, und Gedanken in den Köpfen der anderen nur Gedanken in den Köpfen der anderen, dann würde sie doch nicht denken, dass das große Kind, das nun groß ist und geht, nein, das sie setzt, in eine Maschine, die in den Norden fliegt, und sich freut, weil er es kann und sie es noch muss, und weint, wissend, das gehört zum Handel: Liebe und Abschied und Tränen, weil doch alles mit allem zusammenhängt, weil doch sonst alles leer wäre, wie das Leben der anderen. Sein Flugzeug wird landen, in der Zeit, die die Ringbahn braucht, im halben Kreis, vier Fünftel - dafür gibt es keinen Takt - nach Hause, die sie sich nehmen könnte und ein Auto und so lange fahren, wie er fliegt. Sie käme ins Brandenburgische, Fontaneland mit Kiefernhimmel und Wolkenschatten in grünen Seen, vor denen sie als Kind so grundlos Angst hatte, weil man den Grund nicht sehen kann, Urstromtal und Toteisseen, Sedimente, geschichtete Geschichten, die zu Untiefen werden, Seenlandschaft, Seelenlandschaft, weil die Eltern erzählten von Bucheckernkaffee und sie an Kienäppelkompott denken musste und ihr bang war vor dem Armsein, dem Verlust, wenn man nichts hat, von dem sie erzählten und sagten ihr Wir-hatten-ja-nichts und Als-wir-so-alt-waren-wie-du. Daran muss sie denken, so alt ist er jetzt. Und dann fährt sie los, und die Straßen sind glatt, kaum geflickt, wie das Leben, das fremd und noch ungelebt unter ihm liegt, zu dem er fliegt, in das er sich legen wird wie in ein frisch bezogenes Bett, zu Gast erst, um dann zu lernen, die Falten glattzustreichen am Morgen, zu leben, und biegt zwischen Felder, auf Wege, die kein Plan kennt, und um sie noch ein letztes Wogen oder schon frisch gepflügtes erdreiches Braun, zengartengleich, weil dem Augusttag der Herbst schon innewohnt und sein Leuchten: Das große Kind ist groß, und es braucht zwei Flugzeuge, um zu ihm zu kommen. Und wenn sie das Bild von sich, das er - Zennström sei Dank - beim Fernsprechen sieht, sieht, dann denkt sie, du bist doch noch gar nicht so alt, und lächelt ...
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