Sonntag, 4. Mai 2014

Lichte Höhe

Ganz oben auf der Brücke, dort, wo es zu allen Seiten nurmehr bergab geht, steht ein Damenrad. Es lehnt sich ans Geländer. Vielleicht kam sie gestern und blieb einfach stehen. Ganz oben, dort, wo es zu allen Seiten nurmehr bergab geht. Vielleicht kam sie, weil sie wollte, dass etwas passiert, etwas Großes, weil ihr Leben so klein war bis dahin und ihr Herz viel zu groß, weil niemand darin war, für den es schlug bis zum Hals, weil jeder Tag war wie Fensterputzen, so sinnlos, wenn morgen der Regen und immer die Vögel ... Und sie glaubt, dass der Ausblick nicht lohnt. Und auch wenn sie singen, ist alles immer Stille, weil doch nie jemand fragt, nie jemand fragt. Dann stand sie da und schaute vielleicht, und die Sonne färbt sich rot wie ein Riesenrad, das steht, weil Abend ist, abendrot. Und sie sieht hinab in die Tiefe, das Wasser, das unter ihr fließt und dunkel vergeht wie die Zeit. Vielleicht kam dann jemand und bat sie um Feuer, nicht weil er raucht, sondern weil er sagen wollte, dass es schön ist, wenn man sieht, wie die Sonne den Himmel erröten lässt, riesenradrund vor dem Grau. Er sagt, er komme gerne hierher, weil man hier ganz allein ist und sieht, wie die Zeit fließt und verrinnt unten, dort, wo es tief ist, wenn man oben, ganz oben am Scheitelpunkt steht. Und vielleicht fragt er sie, ob sie das Gefühl kennt, am Morgen zu erwachen, bevor es hell ist, und man aufsteht und weiß, das Bett ist ganz leer, wenn man geht. Und dann geht er hinaus in den Morgen, auf die Brücke und sieht, wie ganz hinten der Tag ganz langsam, ganz langsam beginnt. Und er schaut in die Ferne, die näher kommt wie die Sonne, und er geht wieder heim, weil er muss, denn man muss doch zur Arbeit und sich anziehen, rasieren, weil man ordentlich ist, weil man muss. Und man weiß, dass am Abend, wenn man heimkommt, die Wohnung so leer ist wie das Bett und der Tisch, wenn man aufsteht am Morgen und geht. Sie sieht in die Ferne, und schweigend beginnen die Wolken, zum Abend zu werden, zum stehenden Riesenradrot. Sie lehnt ihr Rad ans Geländer der Brücke. Sie nimmt seine Hand. In die Ruhe nach der Stille, in der niemand gefragt hat, sagt sie einfach, ganz einfach: Komm.

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