Samstag, 5. April 2014

Blattgold

Gärten in der Draufsicht. Lauter kleine Gärten, die aus dem zweiten Stock aussehen wie winzige Länder auf dem Globus einer anderen Welt. Fremd und fern wie Kolonien unter einem Mikroskop. Die Menschen in den kleinen Gärten folgen einem Rhythmus der Geselligkeit. Und kurz bevor das Jahr sich dem Ende zuneigt, harken sie die Blätter laubabwerfender Bäume und Sträucher zu brennbaren Haufen zusammen. Rituale der Ordnung. Medaillenwürdig wie der Formationsflug südwärts strebender Vögel. Herr Brehme harkt bedächtig Beet für Beet. Herr Brehme hat eine schöne Frau. Sie trägt ein fein gebundenes Tuch über den dunklen Locken. Goldene Ohrringe zieren sie. Man sagt, Frau Brehme würde sich die Nägel vor dem Unkrautjäten lackieren. Man sagt, Frau Brehme passe nicht in die kleinen Gärten in der kleinen Welt. Niemand hat je mit Frau Brehme gesprochen. Frau Brehme sieht schön aus und fremd aus der Ferne des zweiten Stocks. Der Garten der Brehmes ist vorbildlich. Geharkt. Gepflegt. Herausgeputzt zu jeder Zeit. Wenn im April die Mandeln blühen und die Blutpflaume, hat Herr Brehme viel zu tun. Weiß verschneit sind seine Beete. Frau Brehme strahlt. Doch Herr Brehme muss harken. Kleine zarte Blütenblätter. Aus dem zweiten Stock, aus der Ferne, ein vergeblicher Kampf. Herr Brehme ist tapfer. Seine Frau ist schön. Herr Brehme hat viel zu tun. Auch im Garten. Sein Leben kämpft gegen Unordnung und Gerücht. Die Sonne strebt dem Ausgang entgegen. Es ist Zeit, zu gehen. 

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