Donnerstag, 10. April 2014

Aus dem Westen

Tauentzientapfer stecken die kleinen dicken Füßchen in schwarzen Lackschuhen, die dem Regen nicht trutzen können. Sie trippeln durch die Pfützenlandschaft des Bürgersteigs. Trotzig und stolz wie ein Vorurteil. Jeder Schritt sagt: Wir gehören nicht hierher. Schon aus Prinzip. Der Tag ist eine schirmlose Zumutung, ruinös wie vor 40 Jahren die Fahrt aus der großen Freiheit nach Berlin, in die Zone, den Osten, die halbe Hauptstadt eines eingebildeten Landes: Tante Anneliese war stets strikt in ihren Ansichten wie der Forderung nach einer Betonung auf dem -lie-. Wir dürfen ja frei denken. Ach ihr Armen. Zum Glück. Also ich könnte ja nicht. Hast du denn keinen edelsüßen Paprika, meine Liebe? Mit hoher Stimme steigt sie die drei Silben des Gewürzes hinauf wie die Treppe zum Triumph, um ganz oben als Fragezeichen des Vorwurfs schuldbewusst gehört in der Leere der Küche zu verhallen. Kaffeezeit. Da kann man doch mal klingeln, gell. Mutter lächelt unter Tränen, die nur ich sehe. Tränen der Freude, ach je, musst doch nicht weinen. Ihr könnt ja nichts dafür. Ach herrje, sieh sie dir nur an, Kurt, sie weint. Nein, ganz spontan, das ist eine Überraschung, gell? Konzert, aber bis Mitternacht wieder raus, Hotel, Ku'damm, natürlich, nein. Freiwillig länger will man ja nicht, gell, Kurt, haha. Glockenhelles Lachen, glockengießerwallend: Tante Anni und Onkel Kurt. Mercedes und 4711 und Glück gehabt. Bestimmt längst tot. Ich biete der Trägerin der schwarzen Schuhe meinen Schirm. Sie lächelt. Dankbar. Jetzt habe ich Glück.

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